Jeder Mensch wird sich eines Tages bewusst, dass er über seine Eltern und Großeltern hinaus eine bestimmte Herkunft hat. In der Beschäftigung mit der eigenen Identität wird es für viele auch wichtig, etwas über ihre Vorfahren, deren Leben und Heimat zu erfahren.
Der in Bremen lebende koreanische Künstler Kyungwoo Chun hat dieses universelle Thema aufgegriffen und anhand seiner eigenen Herkunft als Fotoprojekt mit 1.000 Mitwirkenden umgesetzt.
Nur wenige Menschen tragen den Namen ›Chun‹. Bereits in seiner Kindheit erzählte man Kyungwoo Chun daher davon, dass sein Name von dem berühmten chinesischen General Chun abstamme, der 1592 mit einem Bataillon von 20.000 Soldaten zur Unterstützung gegen den Angriff japanischer Truppen nach Korea entsandt wurde. Chun kämpfte siegreich für Korea und kam dafür zu hohen Ehren. Es bleibt ein Rätsel, warum er später nicht mehr nach China zurückkehrte – jedenfalls hinterließ der damals 49jährige in seiner neuen Heimat Korea weitere Nachkommenschaft.
Da der emigrierte General zu Lebzeiten sogar noch eine Autobiografie verfasst hat, war es für Kyungwoo Chun nicht schwierig, Recherchen über diese historisch bedeutsame Persönlichkeit anzustellen und den Ort, wo er einst geboren wurde, ausfindig zu machen. In dem abgelegenen Dorf bei Zhengzhou in Mittelchina, das ebenfalls den Namen ›Chun‹ trägt, leben heute noch immer 3.000 seiner Namensvetter, wie er erfahren konnte.
Der Name ›Chun‹ ist im Chinesischen gleichbedeutend mit der Zahl 1.000. ›Chun Man Li‹, der vollständige Name des Generals, enthält zusätzlich den Hinweis auf eine lange Distanz und bedeutet übersetzt etwa ›1.000‹ Meilen. Anhand der Geschichte seines berühmten Ahnen, der bereits im 16. Jahrhundert mit einem Auftrag bzw. einer Idee in die Fremde auszog, visualisiert Kyungwoo Chun mit seinem gerade vollendeten Fotoprojekt ›Thousands‹ symbolisch viele Emigrantenbiografien – inklusive seiner Ur-eigensten.
Kyungwoo Chun, dessen konzeptuelles Werk sich vor allem über Porträtaufnahmen und Fotoperformances darstellt, reiste nach aufwändigen Recherchen 2006 erstmals in die ehemalige Heimat des Generals. Sein Plan war es, dort 1.000 Menschen namens ›Chun‹ zu fotografieren. Mit Hilfe des Bürgermeisters und der Dorfältesten, die den Künstler aufgrund seines Namens sofort als ihren Verwandten akzeptierten, konnte er in die Geschichte und in die Stammbücher des Ortes eintauchen und das Interesse der Bevölkerung wecken. Dank deren Begeisterung gelang ihm im Frühjahr 2007 der erste Schritt zur Umsetzung des groß angelegten Projekts. An drei verschiedenen Orten in der Region baute er ein provisorisches Studio auf, wo er die freiwilligen Kandidaten verschiedenen Alters und Geschlechts jeweils für eine Minute belichtete. Mit den Filmen reiste er zurück in seine Wahlheimat Bremen, wo die Bilder entwickelt, geprintet und kaschiert wurden. Bei einem erneuten Besuch in China wurden die beteiligten Personen noch gebeten, ihr Porträt selbst handschriftlich mit Namen, Geburtsort und -tag zu versehen.
Nachdem die geplanten 1.000 Stellvertreter in Bild und Schrift dokumentiert waren, wurde das Konvolut – in Anlehnung an die traditionell in rote Seide eingebundenen, chinesischen Stammbücher – in rote Tücher gehüllt, um über den Land- und Seeweg einen ersten Reiseabschnitt von China nach Korea zurückzulegen. Von dort aus werden die Porträts Anfang 2008 ihre Reise individuell als Postkarten fortsetzen. Empfänger der Sendungen ist Kyungwoo Chun in Bremen.
2008 erscheint eine umfangreiche Buchdokumentation des Projektes, on mehreren Ausstellungen wird das Projekt gezeigt. Diese zeigen neben einer Installation der 1.000 um die Welt gereisten, chinesischen Nachkommen des Generals, Arbeiten, die sich auf dessen äußere Erscheinung beziehen. Kyungwoo Chun ließ während seines Aufenthalts in China auch eine Rekonstruktion der Uniform anfertigen, so dass mit Hilfe des Kostüms ergänzend eine Reihe fiktiver Porträts des berühmten Namensgebers entstanden.
Claudia Stein
Photography-now, Berlin
Januar 2008
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