Katharina Hinsberg gehört zu den Künstlerinnen und Künstlern, die sich auf Grundbedingungen der menschlichen Wahrnehmung fokussieren und aus einer bewussten Selbstbeschränkung heraus ein offenbar unerschöpfliches Experimentierfeld eröffnen. Der Hauptgegenstand ihrer Betrachtung ist die Linie.
Dabei geht sie sehr elementar, fast wissenschaftlich vor: Alles Zeichenhafte kommt aus der Linie, aber die Linie ist immer auch der Niederschlag einer räumlich sich vollziehenden Handlung. In ihren unterschiedlichen Werkgruppen transponiert Hinsberg die Linie aus der Zweidimensionalität in den Raum. Damit gelingt es ihr, die Wechselbeziehung von Raum (Volumen) und Linie (Bewegung) in starken und nachhaltig eindrucksvollen Bildern zu visualisieren.
Schon in den 1990er Jahren beginnt sie, einzelne Linienfragmente auszuschneiden und an die Wand zu heften. Die fragilen Ausschnitte heben sich als reliefhafte Zeichen von der Wand ab, auf die sie zudem noch ihre Schatten werfen, so dass sich der Eindruck eines Aufbäumens aus der Fläche in die Dreidimensionalität herstellt. Hinsberg nennt diese kleinen, als Einzelstücke fast beiläufig erscheinenden, perfekten skulpturalen Gebilde Découpagen von französisch „découper“ für „ausschneiden“; eine Kennzeichnung, die sie in den Rang einer eigenständigen künstlerischen Erfindung wie die der Collage stellt. Im Gegensatz zur Collage wird hier nichts geklebt, stattdessen holt einzig der Schnitt die Linie aus der Planimetrie und übereignet sie dem Raum.
In der Interaktion zwischen Linie und Raum werden immer wieder sich gegenseitig bedingende Wechselbeziehungen untersucht. In „Lichtes Maß II“ ging Katharina Hinsberg 2004 im Kunstraum Düsseldorf von den Raumflächen aus, die sie in Raumlinien überführte. Ein auf den Boden gelegtes, quadratisches Blatt Papier entsprach in Länge und Breite der Höhe des Raumes. Das Blatt wurde in einen einzigen durchgehenden Streifen geschnitten, mit dem die Künstlerin, von einer Ecke ausgehend, rechtwinklige Kuben im Raum umfasste, die als „lichtes Maß“ vorformulierten Sehfeldern der Raumerkundung entsprachen.
Umgekehrt wurden 2012 im Ulmer Kunstverein in „Fluren (Die Teile und das Ganze)“ die Dimensionen des Fußbodens in Felder unterteilt und als Raumteiler in die Vertikale gehoben. Der gesamte Fußboden des Kunstvereins wurde alternierend mit roten und weißen Streifen aus zusammengeklebtem Seidenpapier ausgelegt. Der solchermaßen aus Papier nachgebildete Grundriss wurde daraufhin zerschnitten und als vom Luftzug leise bewegte Papierfahnen in denselben Raum gehängt. Das Grundmaß des Raumes findet sich in eine leuchtend farbige und in ihrer Transparenz vom Licht erfüllte Raumordnung übersetzt.
Bei all ihren Interventionen spielt das Zeitkontinuum, die Abhängigkeit aufeinander bezogener Prozesse eine ebenso wichtige Rolle wie die Bewegung der Betrachterin und des Betrachters im Raum. Es gibt immer eine Veränderung und eine Entwicklung, ein Davor und ein Danach, die sich bei jedem Einzelnen zu einer spezifischen Erfahrung summieren.
2014 errichtete Hinsberg im Düsseldorfer K20 eine eindrucksvolle Installation mit dem Titel „Feldern (Farben)“. Der fensterlose Raum wurde rundum mit vielen Schichten von Seidenpapier aus dem gesamten Farbsortiment ausgekleidet. Die Besucherinnen und Besucher waren aufgefordert, nach Belieben mit Hilfe einer Stange Papiere abzulösen, so dass die darunterliegenden Farben zum Vorschein kamen. Immer wieder neue Muster und Farbkombinationen schmückten die Wände, bis am Ende von den ursprünglich 74.760 Blättern nichts mehr zu sehen war. Nur das regelmäßige Raster der Nägel an den Wänden blieb zurück. Die abgenommenen Seidenpapiere wanderten in die Museumspädagogik, wo sie weitere Verwendung fanden.
Parallel zu diesen Rauminstallationen entstehen permanent große Konvolute von Einzelarbeiten, in denen die Befragung der Linie zu beeindruckenden Modifikationen führt. Aber auch wenn die Ausgangskoordinaten meist einem klaren Konzept folgen, das wie in einer Laborsituation präzises Regelmaß und kontrollierte Abläufe einfordert, offenbaren die Ergebnisse eine beschwingende Anmutung von überwältigender Schönheit. Dazu trägt das Material bei – bevorzugt weißes Papier –, aber auch die einfachen, wenn auch passgenauen Verfahren des Umgangs damit. Schneiden, durchbohren, stapeln, schichten, knüllen – es sind sehr unkapriziöse Formen der Aneignung, mit denen Katharina Hinsberg die Linie auf neuartige Weise erlebbar und physisch präsent macht.
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