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Compilation/Kompilation wird in Literatur und Wissenschaft meist abwertend verwendet für "unschöpferisch aus anderen Werken zusammentragen". Der Begriff wurde erstmals von Cicero in seinen Briefen spottweise für eine Aktensammlung verwendet. Im Englischen ist der Begriff neutraler, mit Compilation ist eher eine Anthologie gemeint, die Konnotation der Plünderung fehlt, dafür verwendet man das Idiom "scissors-and-paste job". In der bildenden Kunst ist die Kompilation erst durch die vielfältigen Möglichkeiten der technischen Übertragung ein Thema geworden.

In der Musikindustrie ist Compilation eine Zusammenstellung von Musiktiteln mit einem thematischen Zusammenhang. Eine andere Bezeichnung ist Sampler oder auch Hitkopplung. Doch ist eine Compilation kein Sampling, denn im allgemeinen übernimmt der Kompilator die einzelnen Songs unverändert. Werk wird neben Werk gestellt, künstlerische Einzelposition neben künstlerische Einzelposition. Jeder der einen MP3 Player mit Titeln bestückt, ist somit heutzutage sein eigener Kompilator, oder allgemeiner, jeder der irgendetwas sammelt und Bezüge herstellt macht Compilations.
Am Ausgangspunkt für die Überlegungen zu dieser Ausstellung stand der Roman Nadja von André Breton, an den das Video Bolek von Tamara Grcic erinnerte. Das "aus dem Leben gegriffene", schmucklose Dokument, wie Breton sein Werk im Vorwort nennt, erweist sich als Resultat eines raffinierten Kompilierens von Wahrnehmungsimpulsen. In den Bruchstücken, die man über Nadja erfährt, setzt sich im Kopf des Lesers die Erscheinung Nadjas zu einem Bild zusammen, in dem sich ihre Identität und die des Autors gegenseitig spiegeln. Die nicht mehr kontinuierlich erzählende Struktur und die Verwendung von Fotografien als Realitätsverweis, gibt dem Ganzen eine verunsichernde Authentizität. Beutet der Autor, dessen zu Beginn gestellte Frage nach seiner eigenen Identität im Text immer mitschwingt, Nadja aus?
Beabsichtigt ist mit dieser Ausstellung keine "alternative Beschreibung" der Welt (Rekonstruktion), kein anderer Blickwinkel, sondern das Aufzeigen der relativen Sicherheit unserer Wahrnehmung der Welt und der intuitiven Erkenntnis der Betrachter. In der Art wie mit Hilfe künstlerischer Verfahren Realität gezeigt wird, wo mit diskontinuierlichen, asyntaktischen, unvorhersehbaren Strukturen unsere Wahrnehmungsgewohnheiten attackiert werden und wir daraus dennoch unsere Welt als in sich kohärent konstruieren.
Die Ausstellung "Compilation" verstehen wir als Struktur einer offenen Zusammenstellung von Werken oder Werkgruppen einzelner Künstler. Zugleich ist Kompilation auch ein Verfahren, welches viele Künstler für das Präsentieren ihrer Werke, aber auch als Produktionstechnik in ihren Werken oder Werkserien verwenden um offene Strukturen oder Strukturen mit Leerstellen zu erzeugen.
In Tamara Gricics Video Bolek aus dem Jahre 2000 scheint die Hauptfigur nur Interesse an der Wirkung zu haben, die sie erzielt in diesem neuen Umfeld, das ihr der Film ermöglicht: diskontinuierlich Realitätsfetzen aneinandergereiht, nicht Sampling, das durch strukturiertes Aneinanderfügen und Repetitieren von Fetzen Eindrücke erzeugt, sondern interaktionistisches Konstrukt. Hier wird kein Erzählstrang geschaffen, sondern eine offene Struktur, als Angebot an den Betrachter aus dem sich ihm Präsentierten sein Konstrukt zu bilden. In ihrer Serie Stills entsteht aus dem frei wählbaren Setzen einer Aufnahme neben eine andere, aus der Differenz oder Ähnlichkeit, ein Netz von Bezügen, ein beabsichtigtes Nebeneinander.
Verglichen mit den Statements sind die Videoarbeiten von Lawrence Weiner wenig bekannt. Er selber bezeichnet diese als structures, konstruierte Strukturen, innerhalb derer sich unverbundene, aber simultane Realitäten herausbilden können. Neben filmischen oder animierten Elementen können dabei oft Visualisierungen oder Rezitate seiner eigenen Arbeiten eine gleichwertige Stellung einnehmen. In seinem letzten Video WATER IN MILK EXISTS, 2008 setzt er bewusst künstlerische und pornografische Konventionen nebeneinander. Peter Schlör schafft mit seinen Schwarzweiss-Fotografien Realitäten, die so nicht fotografierbar sind und sich auch klar als hergestelltes Bild zeigen. Es sind Bilder, die eine persönliche Erfahrung wiedergeben, kompiliert aus der Bewegung im Raum, wie wir sie sonst nur in der Erinnerung, als Erfahrung aus der eigenen Bewegung oder Veränderung abzurufen vermögen. Nadja ist seit 30 Jahren Petra Wunderlichs Lieblingsbuch. Als Metapher der Plünderung lassen sich ihre Marmor-Steinbrüche lesen. Aber es sind auch offene Bilder, denn sie sind nur eine Momentaufnahme. Jederzeit kann ein weiterer Ausbruch von Steinblöcken eine anderes Bild entstehen lassen. Nur schwer lassen sich jeweils die Grössenverhältnisse erahnen, die jedoch gewaltig sind – als Rohstoff wertvollster Skulpturen. Offensichtlich als Kompilation angelegt sind die beiden gezeigten Arbeiten von Daniele Buetti – Werbe-Schönheiten, deren Perfektion sich durchaus auch als digital idealisiert und somit reiner Schein entpuppen könnte. Sie sind perfekte Projektionsflächen. Irritation erzeugt die bildliche (Zer-)Störung durch eingestochene Texte. Es sind jedoch tatsächlich Leerstellen, die uns das Licht aus dem Raum hinter den Bildern wie aus dem Off entgegenstrahlen lassen. Marcel Odenbach strukturiert Verstreutes durch Reproduktion zu Bildern, deren einzelne Teile uns aus den Massenmedien vertraut sind. Aus Verweisen wird ein Spielraum für den Betrachter und dessen Erinnerungen geformt. In seiner Arbeit "Im Kreise drehen" wird durch Ausschneiden dieser Verweis wieder relativiert, wenn durch die Leerstellen der Satz "Wenn man nur seine Vergangenheit so leicht ausspucken könnte" sich endlos wiederholt und buchstäblich Sprache zwischen den Bildern wird. Die veränderte Wahrnehmung durch die Vorinformation via Internet über Orte, die man zu besuchen beabsichtigt, ist Auslöser der Arbeit von Ayse Erkmen. Sie nutzte das Intro des Centre d'art contemporain d'Ivry - le Crédac anlässlich des Ausstellung "Variations continues" für ihre Videoarbeit Hearts and Circles. Es wird zu einer Leerformel der Aufmerksamkeit und somit zu einer für ihre Arbeit typischen Reflektion, die auf das Ermöglichen einer Auseinandersetzung des Betrachters mit der spezifischen Situation einer Ausstellung abzielt.
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