„Wir leben in einer facialen Gesellschaft, die ununterbrochen Gesichter produziert“, resümierte Thomas Macho. Lebten Held:innen, Genies und Heilige in Erinnerung ihrer Taten, die in Mythen und Erzählungen von Generation zu Generation übertragen wurden, reduzieren die modernen Bildmedien Vorbilder meist auf ein ikonisches Bild, man denke an die legendären Portraits von Abraham Lincoln, Mao, Che Guevara, Marilyn Monroe, wie sie u.
a. auch Hans Belting in seiner „Geschichte des Gesichts“ zum Beispiel nimmt. Daniele Buetti ist ein Künstler, der zur Mediengeschichte des Gesichts künstlerisch maßgebliches beiträgt. In den 1990er Jahren ist er mit der Bearbeitung von Fotografien aus Hochglanzmagazinen der Werbe- und Modebranche international bekannt geworden. Er tätowierte Logos, Schriftfragmente, Narben, ungewöhnliche Hautmerkmale, später auch ornamentale Arabesken in die makellosen Abbildungen von makellosen Gesichtern und Körpern. Später waren es Firmenlogos, die den Körper als letzte Werbefläche eroberten. Indem er den Ikonen unter die Haut rückte, brachte er zugleich Verletzbarkeit, Schmerz und Einsamkeit in die Bilder zurück; Erfahrungen und deren Überwindung, die in den Religionen zu den essenziellen Voraussetzungen für Heiligtum gelten. Buetti nutzt bis heute immer wieder und mit großer Kunstfertigkeit das Prinzip des „Defacings“ (der Übermalung), um Momente der Individualisierung durch Störfelder zu erreichen. Es ist das Unperfekte, das Abweichende, bisweilen Morbide, dass das Schöne an seine Grenze bringt und damit sichtbar macht.
Lange galt das Gesicht als das primäre Körperteil und „Interface“, das Identität verbürgte. Die mitleidslose, operative Veränderung des Gesichts ist literarisches Motiv in Krimis, Horrorfilmen oder Science-Fiction-Szenarien. In grotesken Darstellungen wird hingegen der ganze Körper zum Gesicht. Dass ein Gesicht eine empirisch zu beobachtende Außenseite eines unbewussten und emotionalen Inneren sein könnte, ist medial kaum mehr relevant. Heute ist beinahe jedes mediale Gesicht ein ästhetisches Artefakt, ein posiertes, optimiertes, idealisiertes oder maskiertes Identitätsobjekt. Bereits Kleinkinder verändern schlagartig ihren Gesichtsausdruck, wenn Eltern ihre Handykameras zücken. Abertausende von Tutorials lehren, wie man sein Gesicht für eine Übertragung per Kamera maskiert.
So entsteht ein eigentümliches Paradox. Wir schauen täglich in Gesichter und sehen sie doch nicht. Im medialen Kontext scheint das natürliche Bild schon längst durch das mediale Surrogat verdrängt. In seiner jüngeren Serie von Portrait-Arbeiten entfernt Buetti die Gesichter der Stars aus den Fotografien und ersetzt die gähnend riesigen Löcher mit Spiegelflächen. Damit reagiert er nicht zuletzt auf die sich beständig steigernde Selbstbeschau und Selbstdokumentation. Die Räumlichkeit in den Bildern entsteht nicht zuletzt durch einen Kranz montierter Fotoschnipsel, aus denen sich das entfernte Portrait wieder rekonstruieren ließe. Doch bleibt auch die Frage, was man letztlich zu sehen bekommt, wenn man in die Leere des Bildes als weiteren Spiegel blickt. „Are you talking to me“, lautet der Titel der Serie. Es sind verstörend schöne Masken ohne Gesichter.
Die frühen Fotoarbeiten Buettis unter dem Titel „Looking for Love“ haben die Kluft zwischen medialisierten Gefühlen und realen Erfahrungen auf schier unerschöpfliche Weise ins Bild gebracht. Diese Kluft wurde mit der Jahrtausendwende noch größer. Die Schrecken der Bilder des Todes und des Attentats auf die Twin Towers in New York, Symbol der Weltwirtschaft, der Krieg im Irak mit all seinen grausamen Implikationen, der Dauerzustand einer prognostizierten Bedrohung, die längst nicht mehr nur eine terroristische, sondern ebenso eine ökonomische und ökologische ist, die mediale Propagierung eines permanenten Ausnahmezustands und die von Angst und Schrecken, haben eine weitere Verschiebung im Umgang mit Bildern gebracht. Im Krieg verlieren Menschen ihre Gesichter. Ende der 2000er Jahre verlässt Buetti das engere Feld der Fotografie und eignet sich Bilder von Gewalt und Folter mittels verschiedener Transferprozesse an. Er abstrahiert und durchleuchtet die digitalen (Vor-)Bilder, schafft neue Kompositionen und bedeckt sie mit Laserschnitt bearbeitetem Acrylglas. Die lange Tradition sakraler Bilder klingt in diesen, auf dokumentarischen Fotos basierenden, Bildkonstruktionen mit, die an architekturbezogene Mosaiken vergangener Zeiten erinnern.
Immer geht es Buetti um Schönheit und damit verbundene Grenzüberschreitungen. Das Licht, das Maß, die Farbe sind drei ästhetische Kategorien, die er zu Beginn seiner künstlerischen Arbeit an dem von ihm entwickelten Werkzeug des „Flügelkreuzes“ analysiert hatte. Gibt es Bilder, die nicht schön sein dürfen? Ab wann entsteht Hässlichkeit? Und ist das Schöne immer das Wahre und Gute? Ist das Hässliche authentischer? Buettis „Beauties“ fanden ihren Konterpart in verstörenden Installationen wie „Auf allen Knien“ (Zürich 2003) oder „Le grand rhume“ (Freiburg und Marseille, 2004) und mit der grotesken Figur eines Freaks, die Buetti in einer Werkserie unter dem Obertitel „Nothing but you“ (2003 – 2009) ins Leben gerufen hatte. Es ist eine irritierende Figur, bedeckt von einer hässlichen Gummimaske mit langer Nase, „die mit atavistischen, autodestruktiven und sadistischen Fantasien beladen ist.
Bisweilen entfernt sich Buetti ganz von Gegenständlichkeit und Narrationen; zumindest vordergründig. In seiner Serie „Flags“ herrschen optische Unschärferelationen. Mit „Flaggen“ haben die sinnlich-abstrakten Farbräume nur insoweit zu tun, als sie Farbkombinationen zitieren. Auch Flaggen funktionieren wie Logos. Sie müssen zuordbar und identifizierbar sein, um zu erkennen, wofür sie stehen. Sie benötigen starke Grenzlinien. Viele Nationalflaggen erinnern an abstrakte Farbkompositionen. Je unschärfer die Bilder eingestellt werden, desto weiter vermischen sich die Farbfeldränder. Es entstehen digitale lyrische Abstraktionen, die andere bildimmanente Räumlichkeiten entstehen lassen. Das lässt sich auch metaphorisch interpretieren. Die Serie entstand im Kontext einer Soundinstallation für die Schirn Kunsthalle „It’s all in the Mind“, in der Buetti eine Farbhypnose suggerierte. Im Zentrum stand die Idee einer „Farbreinigung“ und die Frage, was passiert, wenn Farbe nicht gesehen, sondern über das Gehör wahrgenommen wird.
Buetti ist ein Ästhet, Theoretiker und „Handwerker“, der seit Jahrzehnten aktuelle Medientransformationen und Debatten in sein Werk einbezieht. Buettis unterschiedlichste Serien sind stets konzeptuell ausgefeilt und klug. Sie schaffen dabei immer ästhetische Bildereignisse bzw. Einzelbilder. Die Themenfelder zur Kulturgeschichte des Gesichts sind noch nicht ausgeschöpft und werden aktuell in rasendem Tempo weitergeschrieben. Momentan sind mit letztlich demokratiezersetzenden Plattformen wie „Face“book, „Face“time, Face-Swapping und perfektionierten Gesichtserkennungsprogrammen ganz andere Herausforderungen an das menschliche Gesicht herangetragen. Algorithmen brauchen keine realen Gesichter mehr, um humanoide Gesichter zu konstruieren, sondern können durch endlose Vorbilder immer andere Variationen erzeugen. Auf der anderen Seite ist das individuelle Gesicht bis auf seine kleinsten facialen Strukturen rekonstruierbar geworden, von Maschinen, die uns besser lesen können, als wir uns selbst.
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